Purpose spüren – Was wir nicht spüren, glauben wir nicht!

Interview mit Chris Tamdjidi und Frank Dopheide.

In einer sich ständig weiterentwickelnden Welt wird es für Unternehmen zunehmend wichtig, einen klaren Purpose und gelebte Werte zu verkörpern. Es reicht jedoch nicht aus, den Purpose nur zu proklamieren, sondern er muss im Arbeitsalltag und insbesondere im Miteinander erfahrbar sein.

In dieser Expertendiskussion trifft Chris Tamdjidi, Co-Gründer und Co-Geschäftsführer von Awaris auf  Frank Dopheide, Geschäftsführer und Gründer von Human Unlimited.

Die Vielschichtigkeit des Corporate Purpose: Die wesentlichen Aspekte eines erfolgreichen Purpose-Rollouts, die über bloße Worte hinausgehen. Warum haben manche Unternehmen Schwierigkeiten, den Purpose im täglichen Betrieb umzusetzen?

Die Verbindung von Purpose und Werten: Wie konkrete Unternehmenswerte vorbildliches Verhalten fördern und zu nachhaltiger Leistung beitragen können. Warum bemängeln viele Mitarbeiter:innen, dass sie den Purpose und die Werte im Alltag nicht erleben?

Verhalten und Teamrituale: Wie der Corporate Purpose und die Werte im Verhalten spürbar gemacht werden können. Wir teilen ein paar Kerngewohnheiten, die langfristig dazu beitragen können.

Frank Dopheide ist ein erfolgreicher Werbetexter, Unternehmer und Autor. Er war Chairman von GREY Worldwide und führte die Agentur zu kreativem Erfolg. Später wurde er Sprecher der Geschäftsführung der Verlagsgruppe Handelsblatt und trieb die Transformation zum innovativsten Medienhaus voran. Als Gründer von „human unlimited“ unterstützt er Unternehmen dabei, einen Sinn zu finden und nachhaltiges Wachstum zu erzielen. Dopheide ist auch Autor des Bestsellers „Gott ist ein Kreativer. Kein Controller“.

Chris Tamdjidi ist Co-Geschaftsführer und Co-Gründer der Awaris GmbH seit 2012. Als studierter Physiker, langjährig Meditierender und Ex-BCG Berater interessiert er sich für die tieferen Zusammenhänge von inneren Zuständen und äußerer Handlung. Das Interview fand im Rahmen des Expert Chats am 13. Juni 2023 statt. Hier wird eine gekürzte Fassung geteilt.

Chris: Frank, du arbeitest mit großen Unternehmen an deren Purpose, und untersützt sie dabei, ihren Purpose erlebbar zu machen. Im Zentrum deiner Arbeit steht der Mensch im Unternehmen. Du hast einmal gesagt, dass Unternehmen die folgende Frage beantworten müssen “Welchen Mehrwert bringen wir mit dem, was wir tun, in die Welt? Das ist die Grundfrage, die jedes Unternehmen für sich und seine Kunden zu beantworten hat”. Wie würdest du deine Arbeit beschreiben?

Frank: Wenn wir zurückschauen sehen wir, dass 50 Jahre lang Sinnhaftigkeit und die ganzen Soft Factors, überhaupt nicht angesagt waren. Es ging um Command und Control, der Mensch war ein kleines Rädchen im großen Getriebe und musste funktionieren. Das ging lange gut, weil Risiko und Veränderungen planbarer waren.  Es wurde zum Problem, als Menschen angefangen haben, Dienst nach Vorschrift zu machen. In meiner Erfahrung ist ein Unternehmen kurz vorm Exitus wenn Mitarbeiter:innen nur noch Dienst nach Vorschrift machen. Gesunde Unternehmen leben davon, dass Menschen ihre inneren Qualitäten und Vermögen einbringen. Freude, Kampfgeist, Durchhaltewillen, Feingefühl, Ideenreichtum – das bringen Menschen nur in ihre Arbeit ein, wenn sie den Glauben an die Sinnhaftigkeit ihres täglichen Tun behalten. Deshalb gibt es eine Purpose Renaissance: Wir müssen den Menschen, die wir mit Exceltabellen nur auf Zahlen trainiert haben, den Glauben an das tägliche Tun zurückgeben.

Chris: Kannst du mir ein Beispiel geben, wie Ihr das macht?

Frank: Mit Douglas haben wir den Purpose gemacht und der war überraschenderweise nicht, Lippenstifte zu verkaufen, sondern: „We open all eyes to the beauty of uniqueness, bring it to life and make life itself more beautiful! For a world where everyone feels seen, heard and valued.“ Viele Menschen fühlen sich nicht gesehen, gehört oder gewertschätzt. 

Douglas hat danach 20.000 Mitarbeiter:innen darin geschult, Menschen zu sehen. Die Aufgabe der Servicemitarbeiter:innen wandelte sich von: Wir wollen nicht nur, dass Gesichter schöner werden, sondern, dass ihr Leben schöner wird, dass ihre einzigartige Schönheit sichtbar wird. Und dann haben wir die gesamte Organisation trainiert: Fünf Days, fünf Sinne. Einen Tag haben sie gelernt, jetzt mal richtig zu sehen. Einen Tag haben sie gelernt, mal richtig zuzuhören. Einen Tag haben sie gelernt, mal anders zu spüren. Und das hat einen Effekt auf alle im Unternehmen, auf die Kunden. Das ist vielleicht ganz klein und setzt doch etwas in Gang. Und wenn man das dann wieder sammeln kann, visualisieren, kommunizieren kann, wird es größer und nachhaltiger.

Chris: Das Beispiel verdeutlicht sehr schön unser Thema. Purpose muss man spüren oder wie du so schön sagst: Sinn braucht Sinnlichkeit.  Warum fällt das vielen so schwer? 

Frank: Ich denke es hat zum Teil mit Emotionen zu tun. Purpose spüren. In dem Moment, wo ihr denkt: „Ich bin total aufgeregt, ich freue mich, das erfüllt mich, das finde ich interessant”. Purpose ist  etwas, was wir im Körper spüren. Wenn ihr sagt, mein Hals schwillt oder ich werde müde, ich bin erschöpft, dann ist das der falsche Weg für euch. Wenn ihr wütend werdet, dann ist das tief gegen euer Innerstes. Dann seid ihr auf dem falschen Weg.

Chris: Ich erlebe das auch in unserer Arbeit, dass viele Menschen einfach in der Beschleunigung stecken und nichts mehr spüren, und versuchen, alles über den Verstand zu begreifen. Wenn Sie stattdessen kurz mal innehalten und einfach mal reinspüren oder jemanden fragen und wirklich zuhören, dann merken Sie, dass es nicht so kompliziert ist. Wenn sie anfangen zu spüren, zu fragen und sich zu verbinden, entwickeln sie eine neue Sicht auf die Themen. Normalerweise in einer eher technik- und kopfgesteuerten Unternehmenswelt wollen alle das Getriebe immer wieder austauschen und keiner denkt daran, das Öl nachzufüllen. Wir müssen nicht immer eine neue komplexe technische Lösung erschaffen, sondern vor allem darauf achten, dass es allen gut geht und Sie spüren, dass was Sie tun, wichtig ist. 

Frage aus dem Publikum:  Ich komme ja aus einem Technikunternehmen und geht es oft ausschließlich um die Verbesserungen, die wir pro Maschine erreichen. Nur schneller, höher oder weiter zählt! Es geht gar nicht so sehr um Purpose, auch im Sinne von Menschlichkeit. Und damit unterscheidet man sich natürlich auch weniger von der Konkurrenz, weil die ganz schnell technologisch auf einem ähnlichen Level sind.

Frank: Technik ist ja immer nur das Wie. Das ist nie das Wofür. Das ist immer nur eine Art, da irgendwie hinzukommen. Der entscheidende Unterschied ist, dass solange man technische Kennziffern hat oder eine Zahl, dann hat man einen Preis. Wert entsteht im Menschen. Zu Weihnachten bekommt meine Frau teure Ringe, die findet sie manchmal gut, manchmal nicht so gut. Unsere Kinder kneten hässliche Figuren, die sind aber ganz wertvoll. Nur der Mensch kann Wertzuschreibung machen. Das ist unabhängig von Preisen und Geld, die er oder sie dafür bezahlt.

Chris: Interessanterweise ist das auch zunehmend ein strategisches Thema.  Wettbewerb anhand von Wissen ist nicht mehr ausreichend. Mehr und mehr Firmen erkennen, dass Kultur zunehmend ein stärkerer Wettbewerbsvorteil ist, weil Kultur sowohl Engagement als auch Mitarbeiter:innentwicklung prägt. Und das ist auch viel schwieriger zu kopieren. Es ist ein Phänomen, dass aus vielen Faktoren besteht, und dass sehr viel Gefühl braucht.  Purpose und Kultur schaffen Wert. Das geht aber nur durch und mit den Menschen, wir müssen Leidenschaft, Lust, Freude respektieren und kultivieren. 

Frank: Einer der Treiber von diesem Wandel sind die jüngeren Generationen, weil die das Gefühl haben, mein Leben ist mir wichtig, ich will es nicht verplempern. Entweder drehen wir jetzt noch was, dann will ich aber meinen Beitrag dazu leisten. Es gibt eine Million unterschiedliche Spielfelder, wo ich aktiv sein kann, ich will mich einbringen, wo es sinnvoll ist.

Chris: Wie du sagst, Frank, wir haben 20, 30 Jahren nicht das Lebendige in der Arbeitswelt kultiviert, das Menschliche, das Spürbare, das Sinnliche. Und jetzt kommt eine Generation, die sagt nee, ohne Sinn, ohne Gefühl funktioniert das für uns nicht. Und das ist natürlich verwirrend für andere Generationen.

Frank: Welche Rolle spielt bei solchen Entscheidungen unser Verstand, wieviel wird im Bauch entschieden?

Chris: Viele Leute glauben, dass der Verstand souverän ist. Aber logisches bewusstes Denken ist nur ein sehr, sehr kleiner Teil davon, wie unser Gehirn funktioniert, wie wir Information verarbeiten.  Und klar sind Emotionen Anfangs kompliziert und irgendwie unsortiert.  Aber je mehr wir uns dafür öffnen, desto mehr können Emotionen wirklich Informationen liefern, wir sagen ja auch: „Wir haben ein Gespür dafür”. Gespür gibt sowohl ein Orientierungssinn und hat auch mit Spüren zu tun hat. Ich würde sogar soweit gehen zu sagen, je komplexer die Zeiten sind, desto mehr müssen wir spüren, denn nur durch Spüren kann man Komplexität integrieren. Sonst wird man von Komplexität überwältigt. Ich habe einmal mit einer Führungskraft von DHL Express gearbeitet, und er hat erzählt, er geht einfach in ein von diesen riesigen Versandzentren und spürt innerhalb von 15 Minuten, was los ist. Er spürt genau, was nicht funktioniert und so weiter. Und dann schaut er sich die Zahlen an und dann bekommt es bestätigt. Aber er hat gesagt, ich kann das spüren, was da los ist, also was so läuft.

Frank: Früher hieß das Management by Walking around. Jetzt haben wir Management by E-Mailing around.  Als ich neu zum Handelsblatt kam, hatte ich gar kein Büro. Ich setzte mich jeden Tag woanders hin und ich kriegte ein Gefühl für das Unternehmen. Ich war in der Verkaufsabteilung und das Telefon klingelte zu wenig. Irgendwas stimmte nicht. Ich hatte noch gar keine Zahlen gesehen.

Chris: Lass uns einmal die Verbindung von Purpose und Resilienz ansprechen. 

Frank: Man muss sich immer wieder aufladen und das ist schwierig ohne Purpose, ohne Leidenschaft. Wir sollten uns daran erinnern, dass die moderne Sicht auf das Thema Purpose mit Viktor Frankl angefangen hat, ein Arzt, der Auschwitz überlebt hat.  Er ist einer der meistgelesenen Psychologen der Welt und hat sowohl das Thema Sinn und auch Resilienz in der modernen Form beschrieben. Er hat die Sicht eines professionellen Psychologen auf Auschwitz formuliert und hat gefragt: Wieso konnten da Menschen überhaupt überleben? Und seine Erkenntnis war dann, wenn die trotz allem einen Sinn hatten, an dem sich festhielten, konnten die Menschen einen Überlebenswillen aktivieren, der medizinisch nicht mehr zu erklären war.

Chris: Purpose hat mit Lebendigkeit zu tun. Wenn Purpose erstarrt, dann ist es nicht mehr lebendig, dann erstarren Prozesse, dann erstarren Mindsets, dann erstarrt Verhalten. Aber das Wichtige für einen Mensch und ein Unternehmen ist, dass es lebendig bleibt. Wir bei Awaris arbeiten ja sehr viel mit Resilienz und versuchen das Verständnis zu vermitteln das Resilienz eben nicht ausharren ist, sondern Anpassungsfähigkeit. Wir können lernen, in der Veränderung lebendig zu bleiben: Das ist Resilienz. Wir haben zwölf verschiedene Fähigkeiten identifiziert, wie Menschen ihren Zustand regulieren. Ich kann zum Beispiel über meine Beziehungsqualität meinen Zustand regeln. Ich kann auch über Atmung meinen Zustand regeln. Und ich kann auch über einen guten Purpose meine Resilienz stärken. Wir sehen beispielsweise auch in unseren Daten, dass der Connection zum Purpose eine hohe Korrelation mit Resilienz aufweist

Das verbindet uns Zwei in unserer Arbeit.  Wir sehen einen sinnlichen Sinn, einen spürbar und gelebten Purpose als etwas, dass Lebendigkeit wieder reinbringt in die Arbeit.  Es gibt viele Aspekte, die zu Resilienz beitragen und die Verbindung zu Purpose ist einer davon, mit dem viele Menschen und Unternehmen gerade kämpfen. Wir haben beide den Wunsch, dass Purpose etwas Lebendiges ist, das wir im Alltag spüren.

Frage aus dem Publikum: Inwieweit arbeitet Ihr in Eurer Arbeit mit Kunden an deren Purpose mit Achtsamkeit oder Resilienz?

Frank: Da finde ich ein Fallbeispiel ganz interessant: Bei einem unserer gemeinsamen Kunden, ein bekanntes Mobilunternehmen, haben wir mit dem Vorstand und mit dem Senior Leadership Team gearbeitet. Chris hat daran gearbeitet, ihnen beizubringen, zu pausieren, auch nur eine Minute innenzuhalten.  Was spannend für mich war zu merken, wie innerhalb einer Minute die Atmosphäre in dem Raum sich verändert. Die Manager:innen merken, was in ihrem eigenen Körper passiert, wie sie ein bisschen ruhiger werden oder weniger aufgeregt. Und sie spüren, wie wichtig es ist auf Ihre eigene Energie zu achten, auf das gemeinsame Menschsein, in so einem Transformationsprozess.

Chris: Wir sehen in unserer Arbeit mit circa 100 Teams, dass diese einfachen Rituale wie Pausieren und gegenseitiges Einchecken zu einer Kultur von psychologischer Sicherheit, Vertrauen und Innovation beitragen.  Wenn ein Unternehmen über Werte, wie zum Beispiel Vertrauen spricht, sehen wir auf der Teamebene, dass psychologische Sicherheit, ein Aspekt von Vertrauen, eine Korrelation von 0,7 hat mit Team Leistung. Das ist massiv. Hier werden Themen wie Achtsamkeit und die richtigen Teamrituale unheimlich wichtig.

Wir sehen auch, dass vier einfache Punkte 61% der Varianz von Vertrauen im Team erklären – nämlich

  • Machen wir einen Check in?
  • Sprechen wir Emotionen, die wir im Team erleben an?
  • Sind wir gleichberechtigt und werden wir gehört im Team
  • Reflektieren wir über unsere Zusammenarbeit

Wenn Teams solche einfachen Verhaltensweisen etablieren, dann können Sie einen geschriebenen Purpose nehmen und in spürbares Verhalten umwandeln.  Ich sitze im Teammeeting und ich werde zuerst gefragt, wie es mir geht.  Meine Antwort wird gehört, und ich höre den Antworten von allen anderen zu. Somit weiß ich, dass das Thema der Mensch im Mittelpunkt, was hier oft steht, wirklich gelebt wird.

Frank: Also die große Aufgabe bleibt, wie bringst du deinen Purpose ins Leben? Und das Interessante ist aber, dass eine ist der kommunikative Teil, die Signature Stories. Wo haben wir denn eigentlich schon Menschen, die was Kleines machen, was genau unserem Purpose entspricht? Und wie kriegen die die Bühne?

Und das andere ist, dass sich Details spürbar ändern. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie groß die Wirkkraft E- Mail von CEOs sind, wenn die anders geschrieben sind. Manchmal muss er oder sie nur die Verabschiedungszeile anders schreiben oder die Betreffzeile. Das kriegt so eine Organisation mit. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie groß der Wirkhebel ist, wenn ein neuer Punkt auf die Agenda kommt, der bisher gar nicht da war. Und defintiv erlebbar wird es, wenn ein Meeting anders stattfindet, jemand anderes das Wort eröffnet, wenn wir mit einem Check in starten.  Also diese ganzen kleinen Dinge, die haben doch einen viel größeren Hebel als man so vermutet.

Chris: In der Beschleunigung haben viele das Spüren verlernt. Sie müssen Ihren Körpersinn kultivieren. Es ist ja wie eine neue Sprache lernen: Am Anfang versteht man fast nichts aber je feiner der Sinn wird, desto nuancierter kann man verstehen und kommunizieren. Und genauso ist es auch mit dem Körper und mit Spürsinn. Das kann kultiviert werden.

Frank: Ich kenne jemanden aus meiner Arbeit, Anja Blacha, eine junge Extrembergsteigerin die zweimal auf dem Mount Everest war. Und die sagt zum Beispiel, die wichtige entscheidende Kommunikation in den Bergen ist gar nicht die Sprache. Du hörst am Keuchen des anderen, ob alles in Ordnung ist. Du spürst in dem Rhythmus der Schritte passiert jetzt was. Und deshalb sind diese ganzen sinnlichen Empfindungen viel wertvoller, auch im Steuern, auch im Entwickeln, auch im Transformieren, als wir das die letzten Jahrzehnte so gemacht haben und gedacht haben.

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