Achtsamkeit und Resilienz

Mit Achtsamkeit Resilienz aufbauen

  • Die Fähigkeit von Achtsamkeitsübungen, individuelle Resilienz und organisationsweite WE-Resilienz aufzubauen, wird immer noch unterschätzt.
  • Achtsamkeit kann Menschen dabei helfen, auf verhaltensbezogener, psychologischer und neurophysiologischer Ebene an sich selbst zu arbeiten.
  • Bei Awaris nutzen wir Achtsamkeit, um den Menschen beizubringen, wie sie ihre emotionalen und physiologischen Zustände besser steuern können, und um eine stabilere Konzentration bei der Arbeit zu erreichen.

Die Bausteine der WE-Resilienz

In einem vorherigen Blogbeitrag haben wir einige der wichtigsten Schritte beschrieben, um von individueller Resilienz zu organisationaler Resilienz zu gelangen. Es lohnt sich, diese hier zu wiederholen, bevor wir auf die Rolle eingehen, die Achtsamkeit beim Aufbau von Resilienz spielen kann.

Resilienz sollte als eine Reihe von erlernbaren Fähigkeiten betrachtet werden, und nicht als ein Wesenszug.

Resilienzfähigkeiten müssen sich auf die zentralen physiologischen und neurophysiologischen Systeme des Körpers auswirken, sonst sind sie kaum wirksam. 

Resilienz kann auf der verhaltensbezogenen, psychologischen und neurophysiologischen Ebene trainiert werden. Die letztgenannte Ebene kann zu den nachhaltigsten Veränderungen von Reaktionsmustern führen.

Resilienz auf der Ebene des Einzelnen, des Teams und der Organisation erfordert die Verankerung von Gewohnheiten in der Arbeits- und Lebenswelt. Die meisten Resilienzinitiativen erzielen nicht die gewünschten Ergebnisse, weil sie nicht ausreichend auf die alltäglichen Gewohnheiten des Einzelnen oder der Organisation ausgerichtet sind.

Offensichtlich gibt es hier einen roten Faden: Selbsterkenntnis, der Aufbau von Fähigkeiten, die Beeinflussung neurophysiologischer Prozesse, das Verankern neuer Gewohnheiten und das Erlangen einer klaren Wahrnehmung unseres eigenen inneren Zustandes. All diese Qualitäten werden durch eine zentrale Praxis wesentlich verstärkt: Achtsamkeit.

Evidenz für Achtsamkeit am Arbeitsplatz

Viele Menschen sind mit der Evidenzgrundlage für die Wirksamkeit von Achtsamkeit vertraut. Aber sie wissen vielleicht nicht, wie solide und umfassend die Belege sind. Jedes Jahr werden in Fachzeitschriften mehr als 3.000 Forschungsarbeiten über Achtsamkeit veröffentlicht. Damit übertrifft Achtsamkeit die meisten anderen psychologischen Interventionen, einschließlich der kognitiven Verhaltenstherapie (Abbildung 1).

Abbildung 1

Auch die Wirksamkeit von Achtsamkeit am Arbeitsplatz ist gut belegt. Eine aktuelle Metaanalyse des National Institute of Health and Care Excellence in Großbritannien hat mehr als 150 Forschungsstudien untersucht. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass „Yoga, Achtsamkeit und Meditation insgesamt am wirksamsten sind, wenn es darum geht, Stress am Arbeitsplatz und psychische Belastungssymptome zu reduzieren, und dass sie sich positiv auf das psychische Wohlbefinden der Beschäftigten auswirken“1. Das ist eine weitreichende Aussage. Vor allem, wenn man bedenkt, dass Achtsamkeit mit der Wirkung von Trainings zur psychischen Gesundheit von Führungskräften, Ersthelfern für psychische Gesundheit, gezielter kognitiver Verhaltenstherapie, Stressbewältigungstraining und anderen bekannten Interventionen verglichen wurde.

Die Wirkmechanismen der Achtsamkeit verstehen

Diese Ergebnisse haben uns bei Awaris nicht überrascht, da wir Achtsamkeit praktizieren. Dennoch ist es wichtig, darauf einzugehen, warum Achtsamkeit so wirksam ist. Gewöhnlich wird über Achtsamkeit in einer neurozentrischen Sprache gesprochen. Die Diskussionen beziehen sich auf das Gehirn, und weniger auf die Verbindung zu unserem Körper und unserer Physiologie. Aber wie wir in unserem letzten Artikel gesehen haben, wirken sich Resilienzfähigkeiten nicht nur auf unser Gehirn aus. Tatsächlich helfen sie uns, auf drei Ebenen an uns zu arbeiten:

  1. Verhaltensmäßig – indem wir uns unserer meist unbewussten und automatischen Verhaltensweisen gewahr werden und bewusst neue Verhaltensweisen einüben. 
  2. Psychologisch – indem wir uns unserer Denkprozesse und festgefahrenen Einstellungen gewahr werden. Dies ermöglicht uns, diese Gedanken loszulassen oder zweckmäßigere Formen des Denkens zu kultivieren.
  3. Neurophysiologisch – indem wir unser inneres System regulieren. Durch unsere Körperhaltung, unsere Atmung und die erhöhte Aufmerksamkeit für das, was in unserem Körper geschieht.

Über die Rolle der Achtsamkeit auf den ersten beiden Ebenen – der Veränderung von sichtbarem Verhalten und psychologischen Prozessen – ist viel geschrieben worden. Weniger bekannt ist die Rolle der Achtsamkeit auf der dritten Ebene, der direkten neurophysiologischen Regulation. Achtsamkeit kann einen tiefgreifenden Einfluss auf unseren Körper, die physiologische Regulation und die Neurophysiologie haben. Die Bedeutung dieses Aspekts darf nicht unterschätzt werden.

Physiologische Intelligenz

Physiologie ist eine etablierte Wissenschaft. Sie umfasst eine Vielzahl von Prozessen, die es dem Körper ermöglichen, Veränderungen seiner inneren Variablen zu erkennen, darauf zu reagieren und ihnen entgegenzuwirken, um das Leben zu erhalten. Unsere Physiologie reguliert unsere Gesundheit, unsere Funktionsfähigkeit und unser Wohlbefinden. Meistens geschieht dies automatisch. 

Aber wir können unsere Physiologie auch durch unser Verhalten beeinflussen. Viele Menschen wissen dies zumindest theoretisch, insofern als sie Verhaltensroutinen ausüben, die unsere physiologischen Prozesse beeinflussen. Dazu gehören Bewegung und Sport, Ernährung, Schlaf und Atmung.

Es gibt eine noch tiefer gehende Form der Regulierung unseres Körpers durch Mind-Body Übungen wie Achtsamkeit, Visualisation und Konzentrationsübungen. Viele Spitzensportler haben gelernt, ihre Physiologie auf diese Weise direkt zu regulieren. Diese tiefere Form der physiologischen Intelligenz erschließt sich durch Achtsamkeitsübungen. So wie emotionale Intelligenz ein Gewahrsein und die Fähigkeit erfordert, unsere emotionalen Zustände zu regulieren, umfasst physiologische Intelligenz ein Gewahrsein und die Fähigkeit, unsere physiologischen Zustände zu regulieren. Einige der Trainingsformate von Awaris nutzen Achtsamkeit, um die Teilnehmer:innen dabei zu unterstützen, diese Fähigkeiten zu erlernen.

Achtsamkeit und physiologische Regulation

Achtsamkeit wird oft als Entspannungsmethode verstanden. Das ist aber nur ein kleiner Teil der Praxis. Im Grunde geht es darum, unsere inneren Zustände zu erforschen, um die Verbindung zwischen Körper und Geist zu stärken. In vielen modernen Gesellschaften sind wir darauf trainiert, kognitiv zu denken und zu funktionieren. Das ist wichtig, kann aber auch dazu führen, dass wir „zu viel denken“ oder uns „in Gedanken verlieren“. Der Durchschnittsmensch hat wenig Verständnis für seine inneren Prozesse, insbesondere für die physiologischen.

Dieses Gewahrsein kann trainiert und erlernt werden. Eine nützliche Analogie ist das Hören einer unbekannten Musikrichtung. Stellen Sie sich vor, sie gehen mit einem Experten für klassischer Musik in ein Konzert. Diese Person kann viele Aspekte der Musik erkennen, die für unerfahrene Zuhörer nicht erkennbar sind. Die Stimmung. Die feinen Veränderungen in Tonhöhe und Lautstärke. Welche Teile des Liedes der Dirigent besonders betont hat. Erst wenn wir mehr klassische Musik hören, fangen wir an, Muster zu erkennen. Wir fangen an, feine Veränderungen und Stimmungen in der Musik wahrzunehmen. Genauso ist es mit dem Körper. Wenn viele Menschen mit der Achtsamkeitspraxis beginnen, nehmen sie zunächst keine feinen Veränderungen in ihrem Körper wahr. Sie denken vielleicht, dass nichts passiert. Wenn wir uns mit der Zeit in Achtsamkeit üben, lernen wir unsere inneren Zustände erst wahrzunehmen und dann zu regulieren.

Die Bedeutung des Atems

In der Achtsamkeitspraxis arbeiten wir normalerweise mit dem Atem. Wenn man bedenkt, wie wichtig der Atem ist, ist es erstaunlich, wie wenig wir darüber wissen. Unsere Atmung hat einen entscheidenden Einfluss auf viele unserer physiologischen Prozesse. Sie ist der erste Schritt zu einer tieferen physiologischen Regulation. Tiefer gelegene Gewebe in der Lunge werden besser durchblutet. Wenn wir also tief atmen, wird der Sauerstoff besser ins Blut transportiert. Tiefe Atmung mit einer guten Körperhaltung erhöhen auch das Volumen der aufgenommenen Luft. In dieser Kombination ermöglicht eine tiefere Atmung eine allmähliche Verlangsamung des Atems.

Außerdem führt die Verlängerung der Ausatmung im Verhältnis zur Einatmung zu einem Wechsel von sympathischer Erregung zu parasympathischer Entspannung im Nervensystem. Insgesamt ist die Atemfrequenz eng mit unserem Nervensystem und unserem Gemütszustand verbunden. Bei Awaris haben wir erkannt, dass der Atem ein wichtiges Instrument ist, um die individuelle Resilienz und die organisationsweise WE-Resilienz zu stärken.

Unser Nervensystem regulieren

Durch Achtsamkeitsübungen können wir lernen, den Zustand unseres Nervensystems direkt über den Atem zu regulieren2. Wir können es nicht nur bewusst herunterregulieren – von sympathischer zu parasympathischer Aktivierung wechseln – sondern auch bewusst hochregulieren. Und zwar nicht nur während der Achtsamkeitsübung, sondern den ganzen Tag über. So können wir mehr Zeit im Entspannungsmodus verbringen. Und wir können bei Bedarf auch schneller aus dem Stressmodus herauskommen. Wie nützlich das am Arbeitsplatz sein kann, ist nicht schwer zu erkennen.

Unseren emotionalen Zustand regulieren

Neben dem Nervensystem sind in unserem Hormonsystem auch die Zustände „Annäherung“ und „Vermeidung“ verankert. Annäherung ist mit einer erwarteten Belohnung verbunden, Vermeidung mit einer erwarteten Bedrohung. Diese Erwartungen können zu Veränderungen in unseren Hormonspiegeln führen, z.B. in der Form von Cortisol, Dopamin und Adrenalin. Wir können also positiv gestresst sein und uns auf ein angenehmes Ereignis freuen. Oder wir können negativ gestresst sein (was den meisten Menschen vertrauter sein wird). 

Viele Sportlerinnen und Sportler visualisieren ihren Erfolg (positiver Stress), indem sie die Etappen eines Rennens in Gedanken durchgehen, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. In ähnlicher Weise können Achtsamkeitspraktizierende starke emotionale Zustände herunterregulieren, indem sie von negativen zu positiven Emotionen wechseln. Sowohl das Nervensystem als auch das Hormonsystem sind wichtige Ebenen der inneren physiologischen Regulation.

Konzentration aufrechterhalten

Unsere Konzentrationsfähigkeit kann trainiert werden. Viele Menschen gehen davon aus, dass starke Konzentration mit Anspannung einhergeht. Wenn wir jedoch unsere Konzentrationsfähigkeit verbessern, können wir unseren Geist mit weniger Anstrengung und größerer Stabilität auf ein Objekt ausrichten. Das bedeutet, dass konzentriertes Arbeiten weniger anstrengend ist und wir leichter in einen Flow-Zustand kommen. Diese Fähigkeit ist ein großer Vorteil für Deep Work.

Herzratenvariabilität als Fenster zur physiologischen Regulation

Wir nutzen die Messungen der Herzratenvariabilität (HRV) unseres Partners Firstbeat, um Menschen darin zu schulen, mit ihrer Physiologie zu arbeiten. Viele von uns verbringen zu viel Zeit in der sympathischen Aktivierung. Sei es, weil wir gestresst sind, zu wenig schlafen, zu viele Medien konsumieren oder einfach nicht entspannen können. Oft verbringen wir mehr als 60-70% unseres Tages in sympathischer Aktivierung. Während diese sympathische Aktivierung (die Stressreaktion unseres Körpers) an sich nichts Schlechtes ist, wirkt sich eine zu starke Aktivierung negativ auf unsere Körperressourcen und unsere Gesundheit aus. Dies lässt sich leicht an unseren HRV-Auswertungen erkennen (Abbildung 2)  Hier sehen wir sowohl die Zeit, die eine Person mit sympathischer Aktivierung verbringt, als auch die damit verbundene Abnahme der körperlichen Ressourcen.

Abbildung 2

Wir haben mit Tausenden von Menschen mit HRV-Geräten gearbeitet und ihnen geholfen, ihren inneren Zustand von äußeren Einflüssen zu trennen. Vor allem lernen sie, mit ihrem Atem und ihrer Körperhaltung zu arbeiten. Ihr Nervensystem zu entspannen. Starke Emotionen herunterzuregulieren. Und stabile Aufmerksamkeit und Deep Work zu kultivieren. Diese Maßnahmen haben einen starken und schnellen Einfluss auf unser Energiemanagement und unsere Vitalität und sind in unserer hochintensiven Arbeitswelt sehr hilfreich.   

Das folgende Beispiel stammt aus früheren Kursen, die wir durchgeführt haben. Es zeigt zwei Personen, die an ihren Computern arbeiten. Die eine ist vor allem gestresst und braucht ein hohes Maß an Anspannung, um arbeiten zu können (und verbraucht daher viel Energie). Die andere kann mit entspannter Konzentration arbeiten. Sie senken ihr Stressniveau über einen Zeitraum von drei Stunden und schalten während konzentriertem Arbeiten auf ein hohes Maß an Erholung um. Die Gesamtheit des Stressniveaus und des Energieverbrauchs sind bei diesen beiden Personen über einen Zeitraum von drei Stunden sehr unterschiedlich. Sie können sich vorstellen, dass sich dies über Wochen und Monate zu einem enormen Unterschied in Stress und Erschöpfung summiert.

Abbildung 3

Person zwei weist auf eine tiefere Ebene der Resilienz hin. Die Fähigkeit, den inneren Zustand während der Arbeit zu verändern. Unabhängig von äußeren Faktoren wie Zeitdruck, Informationsflut und Unterbrechungen. Aber das zu lernen ist keine höhere Mathematik. Sie können es selbst ausprobieren:

  • Nehmen Sie sich drei Minuten Zeit.
  • Setzen Sie sich mit geradem Rücken an einen ruhigen Ort. Es ist in Ordnung, wenn Sie dies vor Ihrem Bildschirm tun.
  • Beobachten Sie Ihren Atem. Wie ist er gerade beschaffen? Tief, flach, gleichmäßig oder beengt?
  • Lassen Sie die Ausatmung langsam länger werden. Erzwingen Sie nichts. Versuchen Sie jedoch, die Ausatmung sanft halb oder sogar doppelt so lang wie die Einatmung werden zu lassen. Sie können zum Beispiel bei der Ausatmung bis sieben oder acht zählen und bei der Einatmung bis drei oder vier.
  • Machen Sie dies zwei Minuten lang.
  • Achten Sie darauf, wie Sie sich fühlen und was mit Ihrem Nervensystem geschieht, wenn Sie auf diese Weise atmen.

Kleine Fähigkeiten wie diese können dazu beitragen, unsere individuelle Resilienz zu stärken. Und wenn Achtsamkeit auf der Ebene des gesamten Unternehmens gelehrt wird, zusammen mit einer intensiven Fokussierung auf Arbeitsgewohnheiten und -fähigkeiten, könnte dies die Grundlage dafür sein, dass ein Unternehmen als Ganzes WE-resilienter wird.

In unserem nächsten Blogbeitrag werden wir über Resilienz-Profile schreiben.

Quellen

1 NICE Guideline 2022 (National Institute of Health and Care Excellence):
Mental wellbeing at work, p. 50

2 Tang et al., 2009:
Central and autonomic nervous system interaction is altered by short-term meditation

Eintrag teilen: