Der Realismus der Achtsamkeit

Abstrakt


Achtsamkeitspraktiken haben sich nicht nur entwickelt, um Stress zu reduzieren und den Menschen zu helfen, sich besser zu konzentrieren. Im Grunde geht es bei Achtsamkeit darum, die Realität, so wie sie ist, zu untersuchen und mit ihr vertraut zu werden Achtsamkeit ist also nicht etwas Esoterisches – tatsächlich ist sie zutiefst realistisch. Oftmals sind wir eher ausgesprochen unrealistisch was unsere eigene oder die Funktions- und Verhaltensweisen anderer Menschen betrifft – und das führt zu unzähligen Arten von Stress.
In dieser von der COVID-Pandemie betroffenen Zeit wollen wir einige Einsichten teilen, wie Achtsamkeit uns nicht darin stärkt, besser mit einer Krise zurechtzukommen, sondern uns außerdem ermöglicht, tiefere Einblicke in die Zusammenhänge unserer Erfahrungen zu bekommen – und wie Geist, Körper und unser Handeln einander beeinflussen.

In diesem Artikel werden wir einige der Erfahrungen betrachten, die wir gerade in dieser Zeit der Pandemie machen konnten.

Einführung


Viele Menschen denken, dass es beim Praktizieren von Achtsamkeit darum geht, einen guten Umgang mit Stress zu er­lernen, oder darum, die Augen zu schlie­ßen und sich entspannen zu lernen, wäh­rend man gleichzeitig gedankenfrei wird, oder darum, einfach im Hier und Jetzt zu sein. Obwohl Achtsamkeitspraxis zu ei­ner schnelleren Entspannung und einem größeren Genuss des Augenblicks beitra­gen kann, ist das „Warum“ der Einführung derartiger kontemplativer Methoden viel weiter gefasst: Diese Art von Achtsam­keitspraktiken wurden entwickelt, um die Realität, so wie sie ist, zu untersuchen und sie so anzunehmen wie sie ist.

Es gibt guten Grund zur Annahme, dass sich Menschen oft in ihrer eigenen Versi­on der Dinge verfangen und dadurch nicht wirklich mit der sie umgebenden Realität in Berührung kommen und – was vielleicht noch viel erschreckender ist – sich dessen nicht bewusst sind. Ein bekanntes Beispiel: Während die Mehrheit der Führungskräf­te sich selbst als gut erreichbar erachtet, haben ihre Mitarbeiter oft Angst das Wort zu ergreifen. Diese Führungskräfte haben den Kontakt zur Realität ihrer Mitarbeiter verloren und kommen zu falschen Schluss­folgerungen, was gravierende Auswirkun­gen auf die Arbeitsbeziehungen und das Unternehmen haben kann.

Forest on a foggy day

The ability to think about what is not happening is a cognitive achievement that comes at an emotional cost.

Matthew A. Killingsworth
and Daniel T. Gilbert

Die Schattenseite: Dadurch dass wir unbewusst sind, schaffen wir oft eine Realität, die düsterer ist als sie tatsächlich ist


Es ist allgemein bekannt, dass unsere bewusste Wahrnehmung limitiert ist – und dass der größte Teil der Verarbeitung unseres Gehirns auf der unbewussten Ebene stattfin­det. Viele Menschen haben schon davon gehört aber nehmen nicht wirklich bewusst wahr, was in ihren Köpfen vor sich geht – und sind sich daher auch nicht bewusst, was ihre Wahrnehmung und ihr Handeln oftmals beeinflusst.

Wenn wir uns des Ursprungs unserer gegenwärtigen Erfahrungen nicht bewusst sind und dementsprechend nicht realistisch genug den Einfluß auf unsere Wahrnehmung und das, was unser Verhalten antreibt einschätzen, kann dies zu Problemen in unse­rem Arbeits- und Privatleben führen. Infolge dieses Nicht-Bewusst-Seins erschaffen wir oft Realitäten, die düsterer scheinen, als sie de facto sind. Tatsächlich verbringen wir sehr viel Zeit damit, über die Vergangenheit und die Zukunft nachzudenken, anstatt mit dem, was im Moment ist, in Kontakt zu bleiben. Studien haben gezeigt, dass unser Geist etwa die Hälfte der Zeit abschweift. Während dieser ‚Gedankenwanderung‘ kre­iert und wiederholt unser Geist fortlaufend Narrationen über uns selbst in dieser Welt, die das, was wir sehen und wie wir die Realität wahrnehmen, potentiell filtern. Daraus können Emotionen entstehen, die evolutionär bedingt so angelegt sind, dass sie eine voreingenommene Sicht der Realität schaffen – eine, bei der wir schnell handeln, ohne zu viele Informationen zu berücksichtigen.

Unsere Urteile mögen in manchen Fällen sicherlich hilfreich sein, andererseits sind sie nur Halb-Wahrheiten, bilden einen „blinden Fleck“ aus, der es uns unmöglich macht, das reale Gesamtbild zu sehen. Zumeist sind wir uns dann der in diesem Moment verfügbaren Ressourcen nicht gewahr, weil sie von Fehlinterpretationen überlagert werden. Diese Beispiele verdeutlichen unsere alltäglichen Erfahrungen:

So wie ein Fisch nicht weiß, was Wasser ist, wissen wir nicht, was real ist – das bleibt so, bis wir lernen, die Realität so wahrzunehmen wie sie ist.(was wir im Vergleich zum Fisch tatsächlich lernen können)

Achtsamkeit ist eine Praxis, die uns hilft, unseren inneren Zustand wahrzunehmen. Zu­dem hilft uns Achtsamkeit zu verstehen, wie unser innerer Zustand beeinflusst wird und wie sich dies auf unser Verhalten auswirkt. Wir lernen die Kausalität der Dinge zu verstehen – dadurch werden wir realistischer darüber, wie sich innere und äußere Welt gegenseitig beeinflussen.

Wie kultivieren wir also diesen Realismus?


Ohne selbstgemachte Erfahrungen und ohne Einblicke in die Funktionsweise unseres Geistes und die ihn determinierenden Faktoren, werden wir die Begrenztheit unserer Wahrnehmung nur schwer erkennen. Sehr oft wird unser Verhalten von alten Mustern bestimmt, anstatt sich mit dem gegenwärtigen Moment zu verbinden. Es gibt kurze, nützliche Achtsamkeitsübungen, die eine Praxis der Beobachtung des gegenwärtigen Augenblicks und des Aussteigens aus unserer Nar­ration über die Realität etablieren helfen. In unseren Programmen laden wir die Teilnehmer oft zu folgender einfachen, aber aufschlussreichen Achtsamkeitsübung ein:

  • Versuchen Sie, 2 Minuten lang mit der körperlichen Empfindung des Atems in Kontakt zu bleiben.
  • Bemerken Sie lediglich, was passiert, ohne eigene Be- und Verurteilungen.

Wenn wir Menschen zu dieser Übung einladen, reichen ihre Reaktionen von eifrigem Engagement – getrieben von der Hoffnung, einen Moment des Friedens und der Präsenz zu erleben –, bis hin zum Widerstand gegen das Ausprobieren einer New-Age-Übung. Unser Hauptfokus liegt darauf, die Teilnehmer zu unterstützen sich wertfrei wahrzunehmen.

Gemeinsam wollen wir nun einige beobachtete Mechanismen und deren Funktionsweise und Einfluss auf unser Verhalten betrachten.

1. Regulierung unserer Körperfunktionen

Als eines der ersten Dinge fällt den Menschen bei Achtsamkeitsübungen oft ihr biologischer Zustand auf. Stress­symptome wie flache Atmung oder ein rasender Herzschlag sind leicht wahrnehmbar. Sobald der Geist auf dem Atem verweilt, fühlen sie sich wo­möglich sofort entspannter. Dies lässt auf den Wechsel von der Aktivierung des Sympathikus zum Parasympathi­kus schließen. Die meisten Menschen haben ein überaktives sympathisches Nervensystem, was unweigerlich zu einer verzerrten und eingeschränkten Wahrnehmung der Realität führt. Hier reagieren wir stark sensitiv auf Reize, sind zunehmend auf automatische Re­aktionen angewiesen und haben nur einen begrenzten Zugang zu fortge­schrittenen kognitiven Funktionen. Während bereits eine kurze Übung wie diese das parasympathische Nerven­system aktivieren kann, merken wir teil­weise gar nicht, dass und wie gestresst wir sind. Ironischerweise fühlen wir uns oft selbst zu gestresst, um tief durchzu­atmen, was die Stressreaktion stoppen könnte. Wenn wir ein paar Minuten lang aufmerksam atmen, kann die Realität, in der wir uns ziemlich gestresst fühlen, oft in eine Realität umgewandelt wer­den, in der wir uns ruhig und gelassen fühlen; dadurch wiederum verändert sich die Wahrnehmung auf die eige­nenRessourcen und die Art und Wei­se, wie wir auf das Problem schauen. Es ist eine einfache Übung, die jederzeit durchgeführt werden kann und eine spürbare Wirkung nach sich zieht. Ein paar achtsame Atemzüge zu nehmen stellt dabei eine uns inhärente Fähig­keit dar. Anstatt also das Gefühl des Ge­stresst-Seins hinzunehmen, können wir leicht mit unserer körperlichen Realität in Kontakt kommen, um Entspannung zu erreichen – es bedarf lediglich ein wenig Übung. Dies kann als realistischer angesehen werden, als den größten Teil unserer Zeit damit zu verbringen, ge­stresst herumzulaufen und das Gefühl zu haben, wir könnten nichts dagegen tun. Viele Menschen sind in den letzten 12 Wochen herumgelaufen – atemlos und auf eine Weise hektisch, ohne sich wirklich bewusst zu sein, dass sie jeden Moment langsamer werden können.

2. Aufmerksamkeit auf reizarme Stimuli lenken

Wenn wir versuchen, einem Objekt mit geringem Reizniveau, wie dem Atem, Aufmerksamkeit zu schenken, ist es anfangs oft schwierig, diese dort ver-weilen zu lassen. Eine häufige Reaktion darauf ist ein Gefühl der Langeweile, man kämpft damit, beim Atem zu blei-ben, und sucht stattdessen nach einer Ablenkung oder entscheidet, dass die Atemmeditation „nicht funktioniert“. In der modernen Welt haben wir uns er-folgreich darin geschult, auf Reize mit hohem Niveau zu reagieren und stän-dig nach Stimuli aus externen Quellen (Apps, Netflix, dringende Fragen) zu suchen. Als Resultat fördern wir einen Kreislauf von Stress und Überreizung. Wenn wir achtsame Aufmerksamkeit üben, erleben wir eine gesteigerte Kör-perwahrnehmung und ein stärkeres Selbst-Bewusstsein. Äußere Ereignis­se wie Geräusche oder die Stimmung in einem Raum werden differenzierter wahrgenommen. Im Laufe der Zeit wer­den wir vielleicht sogar neugierig auf die niederschwelligeren Stimuli, wo­durch wir unsere Aufmerksamkeit auf kleine Schwankungen interner und ex­terner Ereignisse schärfen. Stellen Sie sich vor, die Vordenker in einem Unter­nehmen wären in der Lage, einen inne­ren Zustand der Neugier zu entfachen – und diesen auch bei Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten. Wie würde das die Kultur und die Lernpraktiken einer Or­ganisation verändern? Sich darin zu üben, den Geist auf subtile Objekte zu richten und neugierig zu werden, ist ein wenig so, als ob man zum ersten Mal eine Geige in die Hand nimmt – Sie er­warten keine großartigen Ergebnisse nach der ersten Sitzung, aber wieder­holtes Üben führt zu bedeutenden Ver­änderungen und Lernfortschritten.

3. Das verstehen der Gedankenwanderung und ihrer Auswirkungen

Viele Menschen werden feststellen, dass sie innerhalb von 2 Minuten viele Gedanken haben. Wenn unsere Ge-danken fortwährend kreisen, hören wir auf, das wahrzunehmen, was gerade passiert – und verlieren den Kontakt zu dem was in uns selbst und in der Arbeitsumgebung um uns herum vor-geht. Es ist wichtig anzumerken, dass wir alle viele Gedanken haben. Dies ist Teil dessen, wozu sich das Gehirn entwickelt hat. Wie viele Gedanken glauben Sie werden Sie in einer 2-Mi-nuten-Übung wie dieser haben? Un-sere Teilnehmerinnen und Teilnehmer schätzen in der Regel, dass sie 20 bis 30 Gedanken haben. Hochgerechnet bedeutet dies, dass wir mehr als 10.000 Gedanken pro Tag haben ‒oft ohne uns dessen bewusst zu sein. Infolgedessen ist unsere Realität durch unser stän­diges „Mind-Wandering“ verschwom­men. Dieses Gedankenwandern führt zu einer deutlich reduzierten Sinnes­wahrnehmung (wir nehmen die Dinge um uns herum nicht wahr) und wirkt sich nebenbei negativ auf unsere Stim­mung aus. Mit den Worten des Harva­rd-Forschers Matthew Killingsworth: „Ein umherwandernder Geist ist kein glücklicher Geist.“ Viele Menschen verbringen ihr Leben damit, 10.000 Gedanken pro Tag zu denken, ohne je mit dem, was um sie herum passiert, in Kontakt zu sein, ohne Dinge je wirklich zu bemerken. Ist das realitätsnah?

4. Die Realität der Zeitwahrnehmung

Achtsamkeitsübungen wie unsere 2-Mi­nuten-Übung können einigen Teilneh­mern unglaublich lang und anderen sehr kurz erscheinen. Dies weist auf eine inte­ressante Tatsache hin – wir haben kein Organ für die Zeitwahrnehmung. Un­sere Zeitwahrnehmung wird stark von unserem Geisteszustand beeinflusst. Viele erleben eine verlangsamte Zeit­wahrnehmung, wenn sie präsent und bewusst sind und andere wenn sie sich mit etwas Neuem oder Spannendem beschäftigen.

Die Zeitwahrnehmung beschleunigt sich, wenn wir uns auf Multi-Tasking oder passives Scrollen von sozialen Plattfor-men einlassen. Wenn jemand unter Zeit-mangel leidet und sich deshalb gestresst fühlt, ist es genau anders herum: Weil wir gestresst sind, haben wir subjektiv das Gefühl weniger Zeit zu haben. In dem Bestreben, eine wertvollere und tiefere Erfahrung von Zeit zu machen, ist es von entscheidender Bedeutung, dass man in der Lage ist, seine Aufmerksamkeit zu regulieren. Zeit-Klaustrophobie kann höchstwahrscheinlich nicht durch ein weiteres Zeitmanagementinstrument gelöst werden, sondern einfach da-durch, dass man die Gegenwart erlebt.

Indem wir beginnen, den Geist zu beruhi­gen und wahrzunehmen, was vor sich geht, können wir wertvolle Einsichten darüber gewinnen, welche Mechanismen unseren Zugang zur Realität beeinflussen und wie wir sie steuern können. Wir kultivieren eine Wertschätzung der Realität durch das Ver­ständnis einer Reihe von Aspekten:

  • Wir lernen, uns sowohl des Stresses als auch der damit einhergehenden Verhal­tensmuster bewusst zu werden. Dadurch können wir diese erst verändern und so von einer sehr eingeschränkten Wahr­nehmung (Tunnelblick), die von automa­tischen und oft emotionalen Reaktionen dominiert wird, zu einer bewussteren Ver­arbeitung der Eindrücke überzugehen.
  • Wir lernen, neugierig auf unsere Erfahrun­gen zu werden und im Gegenzug unsere Wahrnehmung zu schärfen – wir nehmen die Details dessen wahr, was in unserem Leben vor sich geht, anstatt in unserer ei­genen Narration stecken zu bleiben.
  • Wir lernen, die Kausalitäten in unseren Er­fahrungen zu sehen – und beginnen, Ein­sichten darüber zu gewinnen, wie die Din­ge uns und wie wir andere beeinflussen. Wir lernen, uns selbst als tief in ein Netz von Interdependenzen eingebettet zu er­leben.

Schlussgedanken


Wenn wir Achtsamkeit zum ersten Mal in einem organisa­torischen Umfeld präsentieren, stoßen wir oft auf ein gewis­ses Maß an Skepsis. Der Geruch des Esoterischen hängt oft scheinbar über der Achtsamkeit. Die geht mit der Annahme einher, dass Achtsamkeit etwas ist, was nichts mit der Reali­tät zu tun hat. Vielleicht ist dies aber genau umgekehrt. Da sie tief in ihren mentalen Erzählungen gefangen sind, neigen die Menschen dazu, den Kontakt zur Realität zu verlieren. Die Kultivierung der Achtsamkeit fördert den Kontakt mit der Re­alität und die Gewöhnung an die Realität, wie sie ist. Sie ebnet den Weg, um klarer wahrzunehmen, was im gegenwärtigen Augenblick geschieht, und adäquater darauf zu reagieren.

Sources: Matthew Killingsworth (2010), Harvard University, Mark Wittmann (2019), IGPP Freiburg, Megan Reitz & John Higgins (2019), Hult Int. Business School

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